Notizen für die www.Initiative-Dialog.de

12 Juli 2004

Zur "Vergessenskultur" des Neofaschismus

Gast schrieb: "Warum sollen wir heute noch im jahre 2004 nach ueber 60 Jahren noch ueber laengst vergangene Ereignisse 60 jahre zurueckliegend und laenger, diskutieren?"

Martin antwortet: Weil die Vergangenheit in der Gegenwart präsent ist.

Traumatisierungen wirken generationenübergreifend. Das Zusammenleben von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen ist verständlicherweise oftmals immer noch problematisch. Das ganze Diskursfeld ist kompliziert und oftmals abgründig, so dass unbedingter Dialogbedarf besteht.

Es ist ein naiver Irrtum zu glauben, mit dem Tod der direkt Betroffenen sei der Fall erledigt. Das, was war, wirkt fort und zwar in nahezu allen Bereichen der politisch-gesellschaftlichen und der kulturellen Verfassung, in der wir leben. Ohne Kenntnis des NS sind die Entwicklung der Bundesrepublik, ihr Selbstverständnis und die Verfassung ihrer Gesellschaft nicht zu verstehen.

Und Vieles ist immer noch nicht zum Besten bestellt und wirkt bis in die Gegenwart:
Die Mechanismen gesellschaftlicher Erinnerung sind eine komplizierte Angelegenheit. Man kann z.B. mit Recht kritisieren, dass Erinnerung bei uns mehr oder weniger vollständig institutionalisiert und an bestimmte Funktionsträger delegiert ist. Untersucht man bestimmte Bereiche der Kultur, auch in ihrer Entwicklung seit 1945, dann stellt man fest, dass dem weit verbreiteten Überdruss an der angeblichen Omnipräsenz des NS in vielen Bereichen die Tendenz gegenübersteht, Täterschaft und Verantwortung umzuschreiben, abzustreiten, umzudeuten etc.
Die Vergangenheit ist immer noch Gegenstand des Streits. Die Forschung ist noch längst nicht zu einem Schlusspunkt gekommen. Immer noch werden neue Zusammenhänge sichtbar. Z.B. ist die Forschung ist von den Institutionen immer weiter in der Mikrobereich der Entscheidungsträger und der unteren Täterschicht vorgedrungen. Interessant im hier diskutierten Zusammenhang ist zum Beispiel das Buch von Harald Welzer 'Opa war kein Nazi'. Darin werden die Formen der Erinnerung im Zusammenhang der Familie und im Übergang der Generationen untersucht und die Tendenz gezeigt, den Holocaust und die persönliche Verstrickung in Schuld in der familiaren Tradition vollständig auszublenden, zu verschweigen oder umzudeuten. Meist hat man es mit dem Befund 'mein Opa war in Ordnung' mit einer Form kollektiv verankerter Entschuldungsstrategie zu tun.

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